In einem Gastkommentar in der NZZ rechnet Physioswiss-Verbandspräsidentin mit dem Tarifeingriff des Bundesrates ab.
Onlineversion in der NZZ, 20. Oktober 2023 (Abo):
Aus dem E-Paper der NZZ vom 20.10.2023:
Willkürlicher Tarifeingriff bei der Physiotherapie
Gastkommentar von Mirjam Stauffer
Seit Jahren kämpft die Physiotherapie für eine Tariferhöhung und für eine revidierte Tarifstruktur. Die Verhandlungen verliefen 2016 ergebnislos, obwohl die Tarifstruktur schon da längst veraltet und eine Aktualisierung überfällig war. Nach der Pandemie konnten die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Leider wurde das Prozedere von den Krankenversicherern einseitig verschleppt, beziehungsweise gar abgebrochen. Nun will das BAG im Namen des Bundesrates einen Tarifeingriff vornehmen, welcher die ganze Branche in Schieflage bringen wird.
Der Eingriff des Bundesrats in die unterfinanzierte Branche wird zu weiteren finanziellen Einschränkungen führen. Die Leidtragenden sind die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, welche sich zunehmend am Rande des Existenzminimums bewegen. Die Preise für die Physiotherapieleistungen decken den Aufwand längst nicht mehr. Die Situation wird seit 2022 massiv verschärft durch die steigenden Personalkosten, höheren Einkaufspreise und steigenden Kapitalkosten als Folgen der Inflation.
Die meisten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten üben ihren Beruf gerne aus. Doch im Alltag steigen die Anforderungen für Praktizierende immer weiter; höhere Ausbildungsabschlüsse, mehr Administration und strengere Vorschriften bei nahezu gleicher Vergütung seit 1997. Pro Taxpunkt können beispielsweise im Aargau über die Krankenkasse 1.05 Franken abgerechnet werden. Das macht bei einer allgemeinen Therapie 50.40 Franken Umsatz pro Sitzung. Diese dauert im Schnitt laut Physioswiss-Studie rund 30 Minuten. Hinzu kommen fast 10 Minuten unbezahlte Tätigkeiten, wie Praxisräume vor- und nachbereiten, Dossierführung, Terminplanung sowie Wechsel zwischen Patientinnen und Patienten. Davon sind auch Mieten, Löhne, Geräte, IT, Reinigung und Versicherungen zu bezahlen.
Der Tarifeingriff des Bundesrates erfolgt nicht nur ohne Rücksprache mit dem Verband, sondern auch ohne Datengrundlage. Der Eingriff sieht unter anderem eine neue verkürzte Tarifposition vor und legt bei dieser eine Behandlungsdauer von 15 Minuten fest. Eine zweckmässige Behandlung ist aber in 15 Minuten nur in seltenen Ausnahmefällen sinnvoll. Es herrscht also nicht nur Willkür, sondern auch Ahnungslosigkeit. Die Konsequenzen tragen die Patientinnen und Patienten. Weiter greift der Bundesrat auch in die Tarife von komplexeren Behandlungen ein und schafft dort einen administrativen Moloch. Neu sollen komplexe physiotherapeutische Behandlungen einzeln vom Krankenversicherer geprüft werden. Zum einen nimmt dadurch die Ungleichbehandlung der Leistungserbringer durch die Krankenkassen zu, zum anderen kann unter dem Strich aus einem solchen Eingriff keine Kosteneinsparung resultieren. Das BAG gibt das denn auch offen zu und schreibt zum Experiment: «Dies könnte zu einer besseren Kostenkontrolle führen. Wie sich die Umsetzung dieser Anpassungen auf die Kosten auswirkt, lässt sich allerdings schwer abschätzen» – Kaffeesatzlesen?
Da die Physiotherapie nur rund 3,6 Prozent der Gesundheitskosten verantwortet, setzt der Bundesrat nicht am effektivsten, sondern am schwächsten Punkt im Gesundheitssystem an. Und dies, obwohl er die wichtige Rolle der Physiotherapie im Gesundheitssystem anerkennt. Praxen werden zunehmend auf Zusatzversicherte und Selbstzahler ausweichen, oder sie werden ihre Praxen gleich ganz schliessen. Das Wohl der Patientinnen und Patienten wird folglich nicht nur durch absurde Tarifpositionen, sondern auch durch eine abnehmende Versorgungsqualität gefährdet.
Es ist zu hoffen, dass der Bundesrat von diesem unvernünftigen Tarifeingriff absieht. Stattdessen sollte die neue Departementsführung dafür sorgen, dass zusammen mit den Krankenversicherern am Verhandlungstisch eine neue, sachgerechte und die Realität abbildende Tarifstruktur für physiotherapeutische Leistungen gefunden wird. Einsparungen im Gesundheitswesen sind unabdingbar, sollen jedoch nicht zulasten des Patientenwohls erfolgen.
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